Mein Waldschlösschenseminar

Eine Geschichte über ein Loch im Schuh, Kreppband und zwei linke Hände

Freitag, 17.02.16, 07:00 Uhr

Der Wecker klingelt. Anders als sonst löst das schrille Klingeln des Handyweckers dieses Mal Freude und sofort eintretende Wachheit aus. Es ist Waldschlösschen-Seminar! Seit Wochen freue ich mich darauf, wie ein Kind auf das erste Eis des Sommers. Oder wie ich auf das erste Eis des Sommers. Egal. Jedenfalls freue ich mich sehr: alte Kollegen endlich wiedersehen, tolle Workshops – einfach eine rundum entspannte Zeit. Ich ahne noch nicht, wie sehr ich mich in dem letzten Punkt irren sollte.

09:30 Uhr

Ich treffe meine Kollegen am Bahnhof. Wir sind das „Party-Team“ und organisieren die sagenumwobene Seminarparty am Samstagabend. Ich bin müde und beneide die Kollegen aus dem Büro, die erst am Nachmittag zu uns ins Waldschlösschen stoßen. Ich schiebe den Gedanken schnell wieder weg, da mir einfällt, dass sie trotzdem um 9 im Büro ihre Arbeit begonnen haben. Der einfahrende Zug beendet meinen wirren Gedankengang.

12:00 Uhr

In Göttingen angekommen, warten wir jetzt schon eine Weile auf unser Taxi. Es regnet in Strömen und ich denke an die Stöcke, die wir zu Dekozwecken noch im Wald sammeln wollten. Ich frage mich, ob ich die richtigen Schuhe für das Wetter anhabe. Das kleine Loch in meiner rechten Schuhsohle beantwortet die Frage. Wir nehmen ein anderes Taxi und machen uns auf den Weg ins Waldschlösschen.

15:30 Uhr

Meine Ankunft im Schlösschen verlief in angenehmer Vertrautheit. Ich war aufgeregt, als peu à peu die ersten Teilnehmer anreisten. Mir ist bewusst, dass ich in diesem Jahr nicht zu den Teilnehmern, sondern zu den Organisatoren des Seminars gehöre. Dennoch fühle ich mich den Teilnehmern zugehörig. Wir begannen zu basteln und verteilten nette, kleine Begrüßungsgeschichten auf die Zimmer.  Zwischendurch begrüßte ich viele Freunde, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Hach ja, Waldschlösschen, du hast mich wieder in deinem Bann.

17:30 Uhr

So langsam ahne ich, dass das Wochenende stressiger wird, als ich es mir vorgestellt habe. Nach dem Auftakt mit allen Teilnehmern und Büro-Mitarbeitern im Plenum ziehe ich mich mit dem Party-Team zurück, um weiter an der Deko zu basteln. Meine beiden linken Hände bescheren mir die grobmotorischen Arbeiten, worüber ich ganz froh bin. Ich versuche mein Kostüm für den Abend herzustellen. Das Motto ist „Im Himmel und Hölle“. Ich werde als nordischer Gott Thor verkleidet sein. Mir fehlt noch die Rüstung, die ich versuche aus schwarzem Tonpapier zu basteln. Ich scheitere mehrmals kläglich beim Versuch, Muster auf das Papier zu sprayen. Peinlich berührt stelle ich fest, dass ich mittlerweile fast zwei Stunden an dieser Aufgabe arbeite. Meine Kollegen scheint das nicht zu stören. Mit knurrendem Magen blicke ich dem Abendessen entgegen.

20:00 Uhr

Das Essen war wie immer spitze! Ich habe, auch wie immer, viel mehr gegessen als ich wollte und ärgere mich etwas darüber. Zum Ärgern bleibt jedoch nicht viel Zeit. Nach dem Abendessen findet eine traditionelle Gesprächsrunde an mehreren Tischen statt, die wir vorbereiten. Wir räumen den Saal um und begrüßen pünktlich die Seminarteilnehmer, die von einem Vortrag kommen. Die Runde beginnt und uns stehen noch einige Aufgaben bevor.

Samstag, 18.02.16, mitten in der Nacht

Der Rest des Abends war anstrengend aber vor allem auch schön. Nach der Gesprächsrunde war ich gemeinsam mit meinen Kollegen hinter der Bar und habe Getränke ausgeschenkt. Zwischendurch blieb immer mal wieder Zeit für tolle Gespräche mit wundervollen Menschen. Gegen Mitternacht waren die meisten im Bett. Ich verabschiedete mich und merkte an, dass ich es mir stressiger vorgestellt hätte. Meine seminarerfahrene Kollegin lachte laut und merkte an, dass ich viel schlafen und mich schon einmal auf den nächsten Tag freuen solle. Ich bin verwirrt und denke an ihre Worte, als ich um 2 Uhr nochmal aufs Handy schaue.

10:00 Uhr

„Wird schon nicht so anstrengend sein“, denke ich, nachdem wir, aus dem Plenum kommend, uns den Dekorationsaufgaben stellen. Ich muss schmunzeln, als ich an die Verrückten denke, die vor dem Frühstück gemeinsam joggen waren. Letztes Jahr gehörte ich auch noch dazu. Die Teilnehmer verbringen ihren Tag in tollen Workshops. Schon schade, dass ich da nicht dabei sein kann. Aber ich freue mich und habe wirklich Lust auf meine Arbeit. Außerdem: Wird schon nicht so anstrengend werden!

13:00 Uhr

Die erste Panikwelle fegt über mich hinweg und trifft mich völlig unvorbereitet. Während des Mittagessens frage ich mich, ob wir das zu dritt wirklich alles schaffen, was passiert, wenn wir es nicht schaffen und wieso wir gerade gemütlich essen, WÄHREND DIE TO-DO-LISTE IMMER LÄNGER ZU WERDEN SCHEINT?!?!?! Ich beruhige mich, lächle, und lasse mir nix anmerken. Ich werde am Abend die Musik machen und denke über passende Themensongs nach. „Himmel und Hölle“. Bleibe immer am selben Ohrwurm hängen. „♫Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?♫“

17:00 Uhr

Ich fluche, während ich zum x-ten Mal auf die große Leiter steige, um etwas an der Decke zu befestigen. Mittlerweile helfen alle frei verfügbaren vamos Büro-Mitarbeiter beim Dekorieren mit. Während ich schwitzend auf der höchsten Leiterstufe stehe und versuche einen riesigen gebastelten Baum an der Decke zu befestigen, lösen sich auf der anderen Seite des Raumes die aufwendigen Himmel-Paradies-Konstruktionen von der Decke. Ich hatte sie nur mit Kreppband befestigt, was offensichtlich nicht meine brillanteste Idee war. Ich verkünde ungefragt und lautstark meine tiefe Abneigung gegenüber der gesamten Kreppbandindustrie und renne mit der Leiter hin und her. Um 19 Uhr beginnt die Party. Das schaffen wir nie!

19:40 Uhr

Wir schafften es tatsächlich auf die Sekunde genau fertig zu werden. Es blieb noch gerade genug Zeit, um das Thor-Kostüm überzuwerfen und wieder in den Saal zu flitzen. Anschließend haben wir begonnen zu dritt alle Teilnehmer mit Essen zu versorgen und fungieren jetzt als Kellner. Ich bin müde und meine Füße tun weh. Nach dem Essen werden wir den Saal wieder umräumen und ich werde an den Laptop gehen, um die Musik zu machen. Das wird ein langer, langer Abend.

Sonntag, 18.02.16, 02:30 Uhr

Die Party neigt sich dem Ende. Sie war wirklich schön. Es wurde viel getanzt, gelacht und ich habe den Eindruck, Teil eines rundum gelungenen Abends gewesen zu sein. Mit leichtem Schwips versuche ich die letzten Seminarteilnehmer von der Tanzfläche zu starren. Ich beschließe „Wer hat an der Uhr gedreht?“ zu spielen, um unmissverständlich klarzumachen, dass die Party vorbei ist. Ich bin froh, dass sie noch beim Aufräumen helfen und so falle ich kurz nach 3 endlich ins Bett – müde, k.o, aber glücklich.

13:00 Uhr

Ich hasse diesen Moment. Jedes Jahr aufs Neue. Gerade waren noch alle gemeinsam beim Mittagessen und nur wenige Minuten später löst sich die Runde rasant auf. Unser Taxi kommt erst in einer halben Stunde und so bleibt genug Zeit, mich von allen zu verabschieden. Schweren Herzens, aber Gott sei Dank nicht alleine, trete ich mit meinen Kollegen aus dem Büro die Heimreise an. Ich bin traurig und müde. Das Wochenende hat seine Spuren hinterlassen.

23:30 Uhr

Zurück in meiner Wohnung bin ich direkt ins Delirium gefallen und habe geschlafen wie ein Stein. Da ich morgen wieder im Büro erwartet werde, beschließe ich das Bett erst gar nicht mehr zu verlassen. Ich liege noch eine Weile wach und lasse das Wochenende Revue passieren. Ich hätte nicht gedacht, dass es so anstrengend wird. In den Jahren vorher, in denen ich als freier Mitarbeiter dort war, habe ich nie bemerkt und zu schätzen gewusst, wie viel Aufwand und Mühe hinter dem Wochenende steckt. Ich bin froh diese Erfahrung gemacht zu haben. Der Termin fürs nächste Jahr ist nur noch 365 Tage entfernt und die beginnende Vorfreude lässt mich erneut in einen tiefen Schlaf fallen.